Die letzten Soldaten der Bundeswehr haben Afghanistan nach 20 Jahren Einsatz in einem Augenblick des Chaos verlassen: Tausende Menschen versuchten im August 2021 über den Flughafen von Kabul vor den Taliban zu fliehen. Auch knapp ein Jahr später sind noch viele Fragen offen.

Es herrscht Ausnahmezustand in Barth, Mecklenburg-Vorpommern: Hubschrauber kreisen, Fallschirmjäger springen aus laut knatternden Propellermaschinen, Soldaten schlagen sich durch Büsche und Felder. Aus einem weißen Haus, inmitten der sonst so ruhigen Gegend hier an der Ostsee, sollen Menschen gerettet werden. Es ist nur eine Übung – dieses Mal. Der Hannoveraner General Jens Arlt leitet das Training und kennt das Szenario hinter der Übung aus der Realität. Denn der 53-Jährige hat vor etwa einem Jahr auch die militärische Evakuierung am Flughafen in der afghanischen Hauptstadt Kabul geleitet.

Tausende Menschen stürmen im August 2021 das Flugfeld, um einen Platz in einem Flugzeug gen Westen zu erhalten. Sie alle wollen vor den Taliban fliehen, die dabei sind, Afghanistan vollständig zu übernehmen. “Das Zeitfenster war von vornherein unglaublich klein”, erinnert sich Arlt. “Deswegen klingt das vielleicht etwas kühl oder kalt. Was ich auch den Männern und Frauen in Wunstorf gesagt habe, die mit der ersten Maschine losgeflogen sind. Ich weiß nicht, was uns erwartet. Wir müssen mit allem rechnen. Ich kann nicht garantieren, dass wir alle zurückkommen.”

Die Bundeswehr startet die größte Evakuierungsmission in ihrer Geschichte. Die Soldatinnen und Soldaten, die vom Stützpunkt im niedersächsischen Wunstorf aufbrechen, erwartet in Kabul Chaos. An den Toren des abgeriegelten Flughafens stehen ihnen tausende verzweifelte Menschen gegenüber. Einer der Soldaten ist Fallschirmjäger Nick. “Die hatten Todesangst und wollten unbedingt rein, um jeden Preis. Und das haben wir auch gemerkt. Bei einigen war der Preis höher. Die haben ihre Kinder vergessen”, erzählt der Bundeswehrsanitäter.

Und es sind nicht nur die verheerenden Zustände vor Ort, die die Soldaten im August 2021 an ihre Grenzen bringen. Der Einsatz in Afghanistan endet in einer Niederlage. “Die Taliban waren 20 Jahre lang unser militärischer Gegner in Afghanistan. Wir haben gegen sie gekämpft. Wir haben sie gejagt”, erinnert sich der Oberstleutnant des KSK. Nun stünden die Taliban am Flughafen plötzlich vor ihnen: “Das war surreal!”

Die deutsche Politik hat die Entwicklungen in Afghanistan im Sommer 2021 falsch eingeschätzt. Auch Diplomat Markus Potzel ist vom Tempo der vorrückenden Taliban überrascht. Er soll zu dieser Zeit eigentlich zum zweiten Mal deutscher Botschafter in Afghanistan werden.

Stattdessen wird er vom deutschen Außenminister in die katarische Hauptstadt Doha geschickt. Dort soll er mit den Taliban verhandeln, dass deutsche Staatsangehörige, Ortskräfte und besonders schützenswerte Personen das Land verlassen können. Am Flughafen spitzt sich die Lage Ende August 2021 weiter zu. Zehn Tage nach Beginn des Evakuierungseinsatzes, am 26. August, sollen die letzten Flugzeuge der Bundeswehr abheben. Kurz vorher sprengt sich an einem der Flughafentore ein Selbstmordattentäter in die Luft. Mehr als 200 Menschen sterben.

Erst nach dem Ende der Evakuierungsmission, im November 2021, schafft er es mit seiner Familie aus Afghanistan heraus. Mittlerweile lebt er mit seinen drei Kindern und seiner Frau im niedersächsischen Lehrte. Er hofft, auch noch seine Mutter aus dem Norden Afghanistans nach Deutschland holen zu können. Andere haben es noch nicht geschafft: Noch immer sitzen viele Ortskräfte in Afghanistan fest, die sich wegen ihrer früheren Tätigkeit für die deutsche Regierung vor den Taliban fürchten.

Anfang Juli soll im Deutschen Bundestag die Einsetzung eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses und einer Enquete-Kommission zur Aufarbeitung des Afghanistan-Einsatzes beschlossen werden. SPD-Politiker Ralf Stegner wird den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss leiten: “Das versteht sich von selbst, dass es in einer Demokratie notwendig ist, dass man Fehler aufarbeitet, wenn es ja offenkundig welche gegeben hat”, so Stegner. Es seien nun einige Fragen zu klären, etwa: “Warum ist eigentlich der Schluss schiefgegangen?”

Bei der Untersuchung soll es auch um den Umgang mit Ortskräften und um die Frage gehen, warum die Regierung nicht früher begonnen hat, ihnen aus Afghanistan herauszuhelfen.

Quellenhinweis: Diese Doku enthält unter anderem Bildmaterial der Bundeswehr.